Wire Card
Verfasst: Fr, 31. Dez. 2021, 17:19
Die Wirecard AG mit Sitz in Aschheim war bis zur Insolvenz ein börsennotierter deutscher Zahlungsabwickler und Finanzdienstleister. Wirecard bot Lösungen für elektronischen Zahlungsverkehr, Risikomanagement sowie Herausgabe und Akzeptanz von Kreditkarten an. Die Tochtergesellschaft Wirecard Bank AG verfügte über eine deutsche Banklizenz.
Es gab schon kurz nach der Gründung Probleme.
Im Jahr 2000 erhielt Wire Card einen zweistelligen Millionen-DM-Betrag vom Wagniskapitalgeber Kappa IT Ventures. Im selben Jahr stellte Hoppenrath Jan Marsalek als „Director Technology“ ein, da dieser sich mit dem Wireless Application Protocol auskannte und bei seinem bisherigen Arbeitgeber Onlineshops und eine Anwendung zur Zahlung über Mobiltelefone entwickelt hatte. Im Anschluss scheiterte ein intern als Wirecard 2.0 bezeichnetes Projekt, in dem die gesamte Plattform neu programmiert werden sollte, nachdem Marsalek den Vorstand nicht über Probleme unterrichtet hatte, was Kosten von 2 Mio. DM verursacht haben soll und die Existenz des Unternehmens bedrohte. Hoppenrath degradierte Marsalek daraufhin. Wire Card holte sich Hilfe bei der Wirtschaftsberatung KPMG, die im Oktober 2000 ihren Berater Markus Braun zum Unternehmen schickte. Kurz darauf wurde dieser als „Chief Technology Officer“ von Wire Card eingestellt.
Im Oktober 2001 erklärte der Münchner Unternehmer Paul Bauer-Schlichtegroll gegenüber Braun, an einer Beteiligung oder Übernahme von Wire Card interessiert zu sein. Sein Unternehmen EBS electronic billing systems AG (EBS), gegründet 1998 als EPM AG Entertainment Print Media, betrieb kostenpflichtige Porno-Websites, deren Zugang über selbstentwickelte Dialer abgerechnet wurde. Im November 2001 verschwanden bei einem angeblichen Einbruch in die Geschäftsräume von Wire Card die Laptops von Braun und Marsalek. Die Verhandlungen mit EBS scheiterten, und Wire Card musste Insolvenz anmelden. Da Gründer Detlev Hoppenrath Insider hinter dem Diebstahl vermutete, erstattete er im Januar 2002 Strafanzeige gegen den Vorstand wegen des Verdachts, dass die Insolvenz für die Überführung von Wire Card in die EBS missbraucht werden solle. Die Staatsanwaltschaft München stellte die Ermittlungen ergebnislos ein, und Hoppenrath verließ den Aufsichtsrat im Oktober 2001.
EBS konnte Wire Card im Januar 2002 übernehmen. Die EBS electronic billing systems firmierte um in ebs Holding AG und fungierte als Holdinggesellschaft.Im Mai 2002 wurden die EBS-Tochterunternehmen umgruppiert und Wire Card sollte mit seiner Corporate Clearing Center genannten Plattform zur Abwicklung von Finanzprozessen für Großunternehmen und dem Risikomanagementsystem Corporate Trust Center zum Schutz vor Zahlungsausfällen im elektronischen Handel am Markt auftreten. Nach der Übernahme von Wire Card betrug der Umsatz der EBS-Gruppe im Jahr 2002 ca. 72 Millionen Euro, der Gewinn vor Steuern 9 Millionen Euro.
Die Vorgängergesellschaft von Wirecard bezüglich des Börsengangs war die InfoGenie Europe AG mit Sitz in Berlin, deren Aktien seit Oktober 2000 im Börsensegment Neuer Markt gelistet waren. Sie bot als Dienstleister telefonische Ratgeber-Hotlines zu unterschiedlichen Themen an. Im März 2002 erwarb das EBS-Tochterunternehmen EBS Mobil mehr als 25 % der Unternehmensanteile. Als die Aktie nach Kursverlusten ein Pennystock wurde, wollte der Börsenbetreiber Deutsche Börse sie vom Neuen Markt ausschließen, was ihm aber im April 2002 gerichtlich untersagt wurde. Mitte Dezember 2004 beschloss eine außerordentliche Hauptversammlung von InfoGenie, die nicht börsennotierte Wire Card AG durch eine Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage zum 1. Januar 2005 in InfoGenie einzubringen und InfoGenie in Wire Card umzubenennen. So wurde die Wire Card AG durch ein Reverse-IPO eine im Börsensegment Prime Standard gelistete Aktiengesellschaft. Paul Bauer-Schlichtegroll zog in den Aufsichtsrat ein und Markus Braun wurde Vorstandsvorsitzender. Im Juni 2006 wurde Wire Card in Wirecard umbenannt. Ebenfalls 2006 wurde Wirecard in den TecDAX aufgenommen und im September 2018 in den DAX.
Internationales Wachstum
2007 wurde Wirecard Asia Pacific in Singapur gegründet. 2008 führte Wirecard virtuelle Prepaid-Kreditkarten für Online-Zahlungen ein und im folgenden Jahr[29] zur Betrugserkennung eine Fraud Prevention Suite, die auch KI und maschinelles Lernen nutzt. 2014 expandierte Wirecard nach Neuseeland, Australien, Südafrika und in die Türkei. Durch den Kauf der Prepaid Card Services von der Citigroup ist Wirecard seit 2016 auch in Nordamerika vertreten. Im gleichen Jahr übernahm das Unternehmen einen südamerikanischen Internet-Zahlungsdienstleister in Brasilien.
2019 beteiligte sich Softbank an Wirecard.Durch den Kauf der AllScore Payment Services aus Peking war Wirecard seit November 2019 auch in China vertreten. Kanzlerin Merkel hatte bei ihrer China-Reise im September 2019 dafür geworben – unter Vermittlung von Karl-Theodor zu Guttenberg, eines Lobbyisten des Konzerns.
Kritik an Wirecard und Manipulationsvorwürfe
Im Mai 2008 veröffentlichte ein unter Pseudonym schreibender Benutzer in einem Internetforum eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Er bemängelte intransparentes Reporting, hinterfragte die hohe Profitabilität und vermutete wegen der dennoch regelmäßig erfolgten Kapitalerhöhungen „systematische Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen“.[39][40][41] Da die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) Wirecard im Sommer 2008 falsche bzw. irreführende Bilanzierung vorwarf, beauftragte Wirecard die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young mit einem Sondergutachten für das Geschäftsjahr 2007. Später wurde bekannt, dass SdK-Mitglieder animiert durch den Forumsbeitrag[41] über Differenzkontrakte auf fallende Kurse vor Bekanntmachung der Bilanzdefizite spekulierten. Auch Fondsmanager der Privatbank Sal. Oppenheim setzten auf fallende Kurse und wiesen institutionelle Anleger zugleich vor Bekanntwerden der Vorwürfe auf Bilanzfehler hin, was als Kursmanipulation gelten kann.[42][43] Da die Aktie um fast 70 Prozent fiel, erstattete Wirecard Ende Juni 2008 Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen Fondsmanager von Sal. Oppenheim,[44] die einen Mitarbeiter freistellte,[45] und Funktionäre der SdK.[46] Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München wurden zwei SdK-Vertreter in Untersuchungshaft genommen,[47] die später gegen sie verhängten Haftstrafen erhielten sie jedoch nur wegen anderer, ähnlicher Fälle.[12] Der Verfasser des Forumsbeitrags wurde von der Polizei vernommen, die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt.[39][41] Wirecard galt im Vorgehen gegen kritische Journalisten, Anleger und Konkurrenten als aggressiv; die Anwälte des Konzerns meldeten sich schon bei Kleinigkeiten; manche kritischen Beobachter sollen beschattet worden sein.[13]
Da die Wirecard-Aktie durch eine Falschmeldung des Nachrichtendienstes Goldman, Morgenstern & Partners (GoMoPa) im April 2010 um mehr als 30 Prozent fiel, leitete die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eine Ermittlung ein. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I gegen GoMoPa wurde mangels Nachweis im Oktober 2012 eingestellt. Im Februar 2016 fiel der Kurswert aufgrund eines Berichts des auch unter erfahrenen Analysten zuvor unbekannten Analyse-Unternehmens Zatarra Research & Investigation erneut ab. Darin warfen anonyme Analysten Wirecard illegale Praktiken vor. Die Staatsanwaltschaft München beantragte im Dezember 2018 nach Abschluss ihrer Ermittlungen einen Strafbefehl wegen Marktmanipulation gegen den Herausgeber des Berichts, einen bekannten Leerverkäufer. Im Mai 2020 wurde das Verfahren mit der Auflage der Zahlung eines niedrigen fünfstelligen Betrags an gemeinnützige Einrichtungen eingestellt.
Auch im Februar 2017 berichtete das Manager Magazin über intransparente Bilanzierungen. Wirecard wies diese Vorwürfe als unbegründet zurück.
Berichterstattung der Financial Times und Zeit danach
Mit einer Artikelserie namens House of Wirecard (anspielend auf die Serie House of Cards und das englische Wort für Kartenhaus) im Blog FT Alphaville der Financial Times (FT) wiesen Dan McCrum und die Singapur-Korrespondentin Stefania Palma in Zusammenarbeit mit Olaf Storbeck und John Reed ab 2015 auf Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz hin. Anfang Februar 2019 fiel der Wirecard-Aktienkurs von gut 167 Euro auf bis unter 86 Euro aufgrund dreier Berichte der Financial Times: Mitarbeiter in Singapur hätten Kunden und Umsätze erfunden, um eine Geschäftslizenz in Hongkong zu erhalten und die Ertragsziele von Wirecard zu erreichen. Am 8. Februar 2019 durchsuchten Polizeibeamte die Filiale in Singapur. Wirecard bestritt die Vorwürfe und reichte eine Klage gegen die Financial Times sowie eine Klage wegen Kursmanipulation ein.
Am 18. Februar 2019 verbot die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) für zwei Monate die Etablierung und Vergrößerung von Netto-Leerverkaufspositionen für Aktien von Wirecard. Mit ihrer Entscheidung schuf die Bonner Behörde einen Präzedenzfall, der spätestens mit der Veröffentlichung einzelner Passagen der entsprechenden BaFin-Akte für heftige Diskussionen sorgte. Nach Recherchen des Handelsblatts unterstützte die Deutsche Bundesbank das Leerverkaufsverbot nicht, trotzdem erließ BaFin-Direktorin Elisabeth Roegele es, weil die Bundesbank zwar für die Stabilität des Finanzsystems, nicht aber für das Marktvertrauen im Sinne des Anlegerschutzes zuständig sei. Am Markt, so das Handelsblatt, wurde die Bafin in der Folge als verlängerter Arm Wirecards wahrgenommen. Banken hingegen, die als Anlagevermittler aufgetreten sind, hätten ihrer Pflicht nachkommen müssen, indem sie die Anleger über die negative Berichterstattung über Wirecard informieren. Die Staatsanwaltschaft München I leitete ein Ermittlungsverfahren gegen einen FT-Journalisten wegen Verstößen gegen das Wertpapierhandelsgesetz ein, das erst Anfang September 2020 eingestellt wurde, ohne dass Belege für Verstöße gefunden wurden. Eine Untersuchung der Anwaltskanzlei Rajah & Tann aus Singapur ergab Unregelmäßigkeiten, die aber keinen wesentlichen Einfluss auf die Bilanz gehabt hätten. Daher reichte Wirecard eine Unterlassungsklage gegen die Financial Times ein, um das Ende der Berichterstattung und eine Entschädigung der Aktionäre zu erreichen. Im Februar 2019 gründete der Aufsichtsrat von Wirecard einen eigenen Prüfungsausschuss unter Vorsitz des neuen Aufsichtsratmitglieds Thomas Eichelmann.
Anfang Juli 2019 wurde bekannt, dass die FDP-Bundestagsfraktion um Christian Lindner an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage nach konkreten Hinweisen auf Kursmanipulation bei der Wirecard-Aktie im Jahr 2019 stellte. In ihrer Antwort bewertete die Bundesregierung das Eingreifen der BaFin als richtig und gab Details aus laufenden Ermittlungen bekannt. So sei ein Börsenhändler in London vorab über die kritischen FT-Artikel informiert worden und die ermittelten Leerverkäufer seien von früheren Attacken bekannt gewesen. Die Regierung lehnte Anfragen zu Verbindungen zwischen Leerverkäufern und FT-Journalisten wegen der laufenden Verfahren ab. Die BaFin hatte im April 2019 gegen FT-Journalisten und andere Personen Strafanzeige wegen des Verdachts auf Marktmanipulation erstattet.
Am 15. Oktober 2019 erhob die Financial Times erneut den Vorwurf der Manipulation. Interne Unterlagen würden nahelegen, dass Wirecard zu hohe Umsätze und Gewinne bei Tochtergesellschaften angegeben habe. Wirecard wies auch diese Vorwürfe zurück und beauftragte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG im Oktober 2019 mit einer Sonderprüfung, um sie zu entkräften. Hierzu übernahm Eichelmann, Vorsitzender des Prüfungsausschusses, Anfang Januar 2020 auch den Vorsitz im Aufsichtsrat. Das Ergebnis der KPMG-Untersuchung wurde Ende April 2020 veröffentlicht.[80] Danach konnten nicht alle Daten vollständig ausgewertet und somit die Vorwürfe nicht völlig ausgeräumt werden. Im Bereich Drittpartnergeschäft konnte KPMG keine Aussage über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Umsatzerlöse treffen. Zahlreiche Leerverkäufer wie TCI oder Armin S erstatteten Strafanzeige gegen die Geschäftsführung. Markus Braun behauptete, Wirecard sei durch den Bericht entlastet. Wirecard verschob die Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 und sagte die Bilanzpressekonferenz ab, ohne einen neuen Termin zu nennen; der Aktienkurs fiel danach um 26 %.
Die BaFin erstattete Anfang Juni 2020 wegen Verdacht auf Marktmanipulation Anzeige, dieses Mal gegen den Vorstandsvorsitzenden Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder; die Staatsanwaltschaft ließ die Geschäftsräume von Wirecard durchsuchen.
Am 23. Juni 2020, zwei Tage vor der Insolvenz, rief der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jörg Kukies, den Chef der bundeseigenen KfW-Bankentochter Ipex, Klaus Michalak, an. Spiegel Online schrieb im März 2021, offenbar sei es darum gegangen, „dass die Bundesregierung die Insolvenz und das Ausschlachten von Wirecard durch ausländische Finanzfirmen verhindern und neue Kredite vergeben wollte – per Anweisung an die Ipex-Bank.“
2021 gab der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung der Wirecard-Niederlassung in Singapur bekannt, dass er Mitte 2018 klare Beweise dafür hatte, dass Marsalek (der im Wirecard-Vorstand für das Asiengeschäft verantwortlich war) offenbar ein Schattenreich aufgebaut hatte. Ausgerechnet Marsalek wurde mit der Klärung der Vorwürfe in Singapur beauftragt; dem Leiter der Rechtsabteilung wurde gekündigt. Seine Mutter schickte zunächst eine Mail an den Vorstandsvorsitzenden Braun (der nicht antwortete) und dann Mails an Journalisten der Financial Times
Bereits 2018 erkannte Fahmi Quadir, Gründerin des New Yorker Hedgefonds Safkhet Capital, kriminelle Machenschaften von Wirecard. Sie bezeichnete das Unternehmen als gigantische Geldwaschmaschine. Ihre Informationen, die sie im Frühjahr 2019 an die Bafin weiterleitete, wurden nach ihren Aussagen von der Behörde nicht weiterverfolgt. Die BaFin hatte der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) im Februar 2019 wegen Ungereimtheiten in der Halbjahresbilanz von 2018 einen Prüfauftrag gegeben. Laut der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war mit der 16 Monate andauernden komplexen Prüfung bei der DPR im Wesentlichen nur ein Mitarbeiter betraut.
Insolvenz
Am 18. Juni 2020 gestand Wirecard ein, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young für das Jahr 2019 keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnte. Dieser Betrag entsprach etwa einem Viertel der Bilanzsumme von Wirecard. Ernst & Young, das seit zehn Jahren die Bilanzen von Wirecard jährlich bestätigt hatte, verweigerte daher erstmals das Testat für die Bilanz des Geschäftsjahrs 2019. Wirecard warnte, dass ohne eine testierte Bilanz am Folgetag mehrere Banken Kredite über insgesamt rund 2 Mrd. Euro kündigen könnten. Der Handel mit der Wirecard-Aktie wurde zeitweilig ausgesetzt. Am 22. Juni 2020 teilte Wirecard in einer Ad-hoc-Meldung mit, dass Guthaben auf Treuhandkonten über 1,9 Mrd. Euro „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren“. Dadurch stürzte der Börsenkurs um mehr als zwei Drittel ab.
Der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun trat daraufhin zurück. Er wurde später unter dem Vorwurf der Vortäuschung von Einnahmen und Marktmanipulation festgenommen und am Folgetag gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch gegen den am 22. Juni 2020 fristlos entlassenen und zuvor als Chief Operating Officer tätigen Vorstand Jan Marsalek wurde ein Haftbefehl erwirkt. Marsalek hatte zunächst über einen Anwalt erklären lassen, er werde sich der Münchener Staatsanwaltschaft stellen, kam dem jedoch nicht nach und flüchtete. Er galt als Vertrauter und „rechte Hand“ von Markus Braun. Am 22. Juli wurde Markus Braun wegen eines neuen Haftbefehls erneut verhaftet. Mit ihm kamen ein ehemaliger Chief Financial Officer und ein früherer Chefbuchhalter in Untersuchungshaft. Die Tatvorwürfe wurden laut Staatsanwaltschaft auf Basis der Aussagen eines Kronzeugen „ganz erheblich“ erweitert. Die drei festgenommenen Personen hätten seit 2015 Einnahmen vorgetäuscht und damit tatsächliche Verluste verschleiern wollen.
Am 25. Juni 2020 stellte Wirecard einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Am 24. August schied Wirecard aus dem DAX und dem TecDAX aus; am nächsten Tag übernahm mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Michael Jaffé als Insolvenzverwalter die Leitung vom Interims-Vorstandsvorsitzenden James Freis und den beiden verbliebenen Vorständen Susanne Steidl und Alexander von Knoop, denen gekündigt wurde. Jaffé kündigte zudem die Entlassung von 730 der 1.300 Mitarbeiter an. Am 11. September schied Freis als Vorstandsvorsitzender aus. Mitte November 2020 teilte Jaffé mit, dass die spanische Banco Santander die Technologieplattform von Wirecard in Europa sowie alle dafür notwendigen Vermögenswerte und den Großteil der davon betroffenen Wirecard-Mitarbeiter übernehme. Nach Angaben von Santander sollen rund 500 Mitarbeiter in das Unternehmen wechseln. Santander übernehme keine Wirecard-Unternehmen und keine rechtliche Haftung für deren Aktivitäten. Laut der Süddeutschen Zeitung soll Santander dafür mehr als 100 Millionen Euro bezahlen und auch Teile des Geschäfts der Wirecard Bank übernehmen. Im Dezember 2020 wurde ein im Auftrag von Wirecard-Gläubigern erstelltes Gutachten in der Zeitschrift für Wirtschaftsrecht veröffentlicht, welches Ansprüche der Wirecard-Aktionäre an der vorhandenen Insolvenzmasse zurückweist.
Es gab schon kurz nach der Gründung Probleme.
Im Jahr 2000 erhielt Wire Card einen zweistelligen Millionen-DM-Betrag vom Wagniskapitalgeber Kappa IT Ventures. Im selben Jahr stellte Hoppenrath Jan Marsalek als „Director Technology“ ein, da dieser sich mit dem Wireless Application Protocol auskannte und bei seinem bisherigen Arbeitgeber Onlineshops und eine Anwendung zur Zahlung über Mobiltelefone entwickelt hatte. Im Anschluss scheiterte ein intern als Wirecard 2.0 bezeichnetes Projekt, in dem die gesamte Plattform neu programmiert werden sollte, nachdem Marsalek den Vorstand nicht über Probleme unterrichtet hatte, was Kosten von 2 Mio. DM verursacht haben soll und die Existenz des Unternehmens bedrohte. Hoppenrath degradierte Marsalek daraufhin. Wire Card holte sich Hilfe bei der Wirtschaftsberatung KPMG, die im Oktober 2000 ihren Berater Markus Braun zum Unternehmen schickte. Kurz darauf wurde dieser als „Chief Technology Officer“ von Wire Card eingestellt.
Im Oktober 2001 erklärte der Münchner Unternehmer Paul Bauer-Schlichtegroll gegenüber Braun, an einer Beteiligung oder Übernahme von Wire Card interessiert zu sein. Sein Unternehmen EBS electronic billing systems AG (EBS), gegründet 1998 als EPM AG Entertainment Print Media, betrieb kostenpflichtige Porno-Websites, deren Zugang über selbstentwickelte Dialer abgerechnet wurde. Im November 2001 verschwanden bei einem angeblichen Einbruch in die Geschäftsräume von Wire Card die Laptops von Braun und Marsalek. Die Verhandlungen mit EBS scheiterten, und Wire Card musste Insolvenz anmelden. Da Gründer Detlev Hoppenrath Insider hinter dem Diebstahl vermutete, erstattete er im Januar 2002 Strafanzeige gegen den Vorstand wegen des Verdachts, dass die Insolvenz für die Überführung von Wire Card in die EBS missbraucht werden solle. Die Staatsanwaltschaft München stellte die Ermittlungen ergebnislos ein, und Hoppenrath verließ den Aufsichtsrat im Oktober 2001.
EBS konnte Wire Card im Januar 2002 übernehmen. Die EBS electronic billing systems firmierte um in ebs Holding AG und fungierte als Holdinggesellschaft.Im Mai 2002 wurden die EBS-Tochterunternehmen umgruppiert und Wire Card sollte mit seiner Corporate Clearing Center genannten Plattform zur Abwicklung von Finanzprozessen für Großunternehmen und dem Risikomanagementsystem Corporate Trust Center zum Schutz vor Zahlungsausfällen im elektronischen Handel am Markt auftreten. Nach der Übernahme von Wire Card betrug der Umsatz der EBS-Gruppe im Jahr 2002 ca. 72 Millionen Euro, der Gewinn vor Steuern 9 Millionen Euro.
Die Vorgängergesellschaft von Wirecard bezüglich des Börsengangs war die InfoGenie Europe AG mit Sitz in Berlin, deren Aktien seit Oktober 2000 im Börsensegment Neuer Markt gelistet waren. Sie bot als Dienstleister telefonische Ratgeber-Hotlines zu unterschiedlichen Themen an. Im März 2002 erwarb das EBS-Tochterunternehmen EBS Mobil mehr als 25 % der Unternehmensanteile. Als die Aktie nach Kursverlusten ein Pennystock wurde, wollte der Börsenbetreiber Deutsche Börse sie vom Neuen Markt ausschließen, was ihm aber im April 2002 gerichtlich untersagt wurde. Mitte Dezember 2004 beschloss eine außerordentliche Hauptversammlung von InfoGenie, die nicht börsennotierte Wire Card AG durch eine Kapitalerhöhung gegen Sacheinlage zum 1. Januar 2005 in InfoGenie einzubringen und InfoGenie in Wire Card umzubenennen. So wurde die Wire Card AG durch ein Reverse-IPO eine im Börsensegment Prime Standard gelistete Aktiengesellschaft. Paul Bauer-Schlichtegroll zog in den Aufsichtsrat ein und Markus Braun wurde Vorstandsvorsitzender. Im Juni 2006 wurde Wire Card in Wirecard umbenannt. Ebenfalls 2006 wurde Wirecard in den TecDAX aufgenommen und im September 2018 in den DAX.
Internationales Wachstum
2007 wurde Wirecard Asia Pacific in Singapur gegründet. 2008 führte Wirecard virtuelle Prepaid-Kreditkarten für Online-Zahlungen ein und im folgenden Jahr[29] zur Betrugserkennung eine Fraud Prevention Suite, die auch KI und maschinelles Lernen nutzt. 2014 expandierte Wirecard nach Neuseeland, Australien, Südafrika und in die Türkei. Durch den Kauf der Prepaid Card Services von der Citigroup ist Wirecard seit 2016 auch in Nordamerika vertreten. Im gleichen Jahr übernahm das Unternehmen einen südamerikanischen Internet-Zahlungsdienstleister in Brasilien.
2019 beteiligte sich Softbank an Wirecard.Durch den Kauf der AllScore Payment Services aus Peking war Wirecard seit November 2019 auch in China vertreten. Kanzlerin Merkel hatte bei ihrer China-Reise im September 2019 dafür geworben – unter Vermittlung von Karl-Theodor zu Guttenberg, eines Lobbyisten des Konzerns.
Kritik an Wirecard und Manipulationsvorwürfe
Im Mai 2008 veröffentlichte ein unter Pseudonym schreibender Benutzer in einem Internetforum eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Er bemängelte intransparentes Reporting, hinterfragte die hohe Profitabilität und vermutete wegen der dennoch regelmäßig erfolgten Kapitalerhöhungen „systematische Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen“.[39][40][41] Da die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) Wirecard im Sommer 2008 falsche bzw. irreführende Bilanzierung vorwarf, beauftragte Wirecard die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young mit einem Sondergutachten für das Geschäftsjahr 2007. Später wurde bekannt, dass SdK-Mitglieder animiert durch den Forumsbeitrag[41] über Differenzkontrakte auf fallende Kurse vor Bekanntmachung der Bilanzdefizite spekulierten. Auch Fondsmanager der Privatbank Sal. Oppenheim setzten auf fallende Kurse und wiesen institutionelle Anleger zugleich vor Bekanntwerden der Vorwürfe auf Bilanzfehler hin, was als Kursmanipulation gelten kann.[42][43] Da die Aktie um fast 70 Prozent fiel, erstattete Wirecard Ende Juni 2008 Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen Fondsmanager von Sal. Oppenheim,[44] die einen Mitarbeiter freistellte,[45] und Funktionäre der SdK.[46] Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München wurden zwei SdK-Vertreter in Untersuchungshaft genommen,[47] die später gegen sie verhängten Haftstrafen erhielten sie jedoch nur wegen anderer, ähnlicher Fälle.[12] Der Verfasser des Forumsbeitrags wurde von der Polizei vernommen, die Ermittlungen gegen ihn wurden jedoch eingestellt.[39][41] Wirecard galt im Vorgehen gegen kritische Journalisten, Anleger und Konkurrenten als aggressiv; die Anwälte des Konzerns meldeten sich schon bei Kleinigkeiten; manche kritischen Beobachter sollen beschattet worden sein.[13]
Da die Wirecard-Aktie durch eine Falschmeldung des Nachrichtendienstes Goldman, Morgenstern & Partners (GoMoPa) im April 2010 um mehr als 30 Prozent fiel, leitete die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eine Ermittlung ein. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I gegen GoMoPa wurde mangels Nachweis im Oktober 2012 eingestellt. Im Februar 2016 fiel der Kurswert aufgrund eines Berichts des auch unter erfahrenen Analysten zuvor unbekannten Analyse-Unternehmens Zatarra Research & Investigation erneut ab. Darin warfen anonyme Analysten Wirecard illegale Praktiken vor. Die Staatsanwaltschaft München beantragte im Dezember 2018 nach Abschluss ihrer Ermittlungen einen Strafbefehl wegen Marktmanipulation gegen den Herausgeber des Berichts, einen bekannten Leerverkäufer. Im Mai 2020 wurde das Verfahren mit der Auflage der Zahlung eines niedrigen fünfstelligen Betrags an gemeinnützige Einrichtungen eingestellt.
Auch im Februar 2017 berichtete das Manager Magazin über intransparente Bilanzierungen. Wirecard wies diese Vorwürfe als unbegründet zurück.
Berichterstattung der Financial Times und Zeit danach
Mit einer Artikelserie namens House of Wirecard (anspielend auf die Serie House of Cards und das englische Wort für Kartenhaus) im Blog FT Alphaville der Financial Times (FT) wiesen Dan McCrum und die Singapur-Korrespondentin Stefania Palma in Zusammenarbeit mit Olaf Storbeck und John Reed ab 2015 auf Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz hin. Anfang Februar 2019 fiel der Wirecard-Aktienkurs von gut 167 Euro auf bis unter 86 Euro aufgrund dreier Berichte der Financial Times: Mitarbeiter in Singapur hätten Kunden und Umsätze erfunden, um eine Geschäftslizenz in Hongkong zu erhalten und die Ertragsziele von Wirecard zu erreichen. Am 8. Februar 2019 durchsuchten Polizeibeamte die Filiale in Singapur. Wirecard bestritt die Vorwürfe und reichte eine Klage gegen die Financial Times sowie eine Klage wegen Kursmanipulation ein.
Am 18. Februar 2019 verbot die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) für zwei Monate die Etablierung und Vergrößerung von Netto-Leerverkaufspositionen für Aktien von Wirecard. Mit ihrer Entscheidung schuf die Bonner Behörde einen Präzedenzfall, der spätestens mit der Veröffentlichung einzelner Passagen der entsprechenden BaFin-Akte für heftige Diskussionen sorgte. Nach Recherchen des Handelsblatts unterstützte die Deutsche Bundesbank das Leerverkaufsverbot nicht, trotzdem erließ BaFin-Direktorin Elisabeth Roegele es, weil die Bundesbank zwar für die Stabilität des Finanzsystems, nicht aber für das Marktvertrauen im Sinne des Anlegerschutzes zuständig sei. Am Markt, so das Handelsblatt, wurde die Bafin in der Folge als verlängerter Arm Wirecards wahrgenommen. Banken hingegen, die als Anlagevermittler aufgetreten sind, hätten ihrer Pflicht nachkommen müssen, indem sie die Anleger über die negative Berichterstattung über Wirecard informieren. Die Staatsanwaltschaft München I leitete ein Ermittlungsverfahren gegen einen FT-Journalisten wegen Verstößen gegen das Wertpapierhandelsgesetz ein, das erst Anfang September 2020 eingestellt wurde, ohne dass Belege für Verstöße gefunden wurden. Eine Untersuchung der Anwaltskanzlei Rajah & Tann aus Singapur ergab Unregelmäßigkeiten, die aber keinen wesentlichen Einfluss auf die Bilanz gehabt hätten. Daher reichte Wirecard eine Unterlassungsklage gegen die Financial Times ein, um das Ende der Berichterstattung und eine Entschädigung der Aktionäre zu erreichen. Im Februar 2019 gründete der Aufsichtsrat von Wirecard einen eigenen Prüfungsausschuss unter Vorsitz des neuen Aufsichtsratmitglieds Thomas Eichelmann.
Anfang Juli 2019 wurde bekannt, dass die FDP-Bundestagsfraktion um Christian Lindner an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage nach konkreten Hinweisen auf Kursmanipulation bei der Wirecard-Aktie im Jahr 2019 stellte. In ihrer Antwort bewertete die Bundesregierung das Eingreifen der BaFin als richtig und gab Details aus laufenden Ermittlungen bekannt. So sei ein Börsenhändler in London vorab über die kritischen FT-Artikel informiert worden und die ermittelten Leerverkäufer seien von früheren Attacken bekannt gewesen. Die Regierung lehnte Anfragen zu Verbindungen zwischen Leerverkäufern und FT-Journalisten wegen der laufenden Verfahren ab. Die BaFin hatte im April 2019 gegen FT-Journalisten und andere Personen Strafanzeige wegen des Verdachts auf Marktmanipulation erstattet.
Am 15. Oktober 2019 erhob die Financial Times erneut den Vorwurf der Manipulation. Interne Unterlagen würden nahelegen, dass Wirecard zu hohe Umsätze und Gewinne bei Tochtergesellschaften angegeben habe. Wirecard wies auch diese Vorwürfe zurück und beauftragte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG im Oktober 2019 mit einer Sonderprüfung, um sie zu entkräften. Hierzu übernahm Eichelmann, Vorsitzender des Prüfungsausschusses, Anfang Januar 2020 auch den Vorsitz im Aufsichtsrat. Das Ergebnis der KPMG-Untersuchung wurde Ende April 2020 veröffentlicht.[80] Danach konnten nicht alle Daten vollständig ausgewertet und somit die Vorwürfe nicht völlig ausgeräumt werden. Im Bereich Drittpartnergeschäft konnte KPMG keine Aussage über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Umsatzerlöse treffen. Zahlreiche Leerverkäufer wie TCI oder Armin S erstatteten Strafanzeige gegen die Geschäftsführung. Markus Braun behauptete, Wirecard sei durch den Bericht entlastet. Wirecard verschob die Veröffentlichung des Geschäftsberichts 2019 und sagte die Bilanzpressekonferenz ab, ohne einen neuen Termin zu nennen; der Aktienkurs fiel danach um 26 %.
Die BaFin erstattete Anfang Juni 2020 wegen Verdacht auf Marktmanipulation Anzeige, dieses Mal gegen den Vorstandsvorsitzenden Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder; die Staatsanwaltschaft ließ die Geschäftsräume von Wirecard durchsuchen.
Am 23. Juni 2020, zwei Tage vor der Insolvenz, rief der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Jörg Kukies, den Chef der bundeseigenen KfW-Bankentochter Ipex, Klaus Michalak, an. Spiegel Online schrieb im März 2021, offenbar sei es darum gegangen, „dass die Bundesregierung die Insolvenz und das Ausschlachten von Wirecard durch ausländische Finanzfirmen verhindern und neue Kredite vergeben wollte – per Anweisung an die Ipex-Bank.“
2021 gab der ehemalige Leiter der Rechtsabteilung der Wirecard-Niederlassung in Singapur bekannt, dass er Mitte 2018 klare Beweise dafür hatte, dass Marsalek (der im Wirecard-Vorstand für das Asiengeschäft verantwortlich war) offenbar ein Schattenreich aufgebaut hatte. Ausgerechnet Marsalek wurde mit der Klärung der Vorwürfe in Singapur beauftragt; dem Leiter der Rechtsabteilung wurde gekündigt. Seine Mutter schickte zunächst eine Mail an den Vorstandsvorsitzenden Braun (der nicht antwortete) und dann Mails an Journalisten der Financial Times
Bereits 2018 erkannte Fahmi Quadir, Gründerin des New Yorker Hedgefonds Safkhet Capital, kriminelle Machenschaften von Wirecard. Sie bezeichnete das Unternehmen als gigantische Geldwaschmaschine. Ihre Informationen, die sie im Frühjahr 2019 an die Bafin weiterleitete, wurden nach ihren Aussagen von der Behörde nicht weiterverfolgt. Die BaFin hatte der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) im Februar 2019 wegen Ungereimtheiten in der Halbjahresbilanz von 2018 einen Prüfauftrag gegeben. Laut der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war mit der 16 Monate andauernden komplexen Prüfung bei der DPR im Wesentlichen nur ein Mitarbeiter betraut.
Insolvenz
Am 18. Juni 2020 gestand Wirecard ein, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young für das Jahr 2019 keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnte. Dieser Betrag entsprach etwa einem Viertel der Bilanzsumme von Wirecard. Ernst & Young, das seit zehn Jahren die Bilanzen von Wirecard jährlich bestätigt hatte, verweigerte daher erstmals das Testat für die Bilanz des Geschäftsjahrs 2019. Wirecard warnte, dass ohne eine testierte Bilanz am Folgetag mehrere Banken Kredite über insgesamt rund 2 Mrd. Euro kündigen könnten. Der Handel mit der Wirecard-Aktie wurde zeitweilig ausgesetzt. Am 22. Juni 2020 teilte Wirecard in einer Ad-hoc-Meldung mit, dass Guthaben auf Treuhandkonten über 1,9 Mrd. Euro „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren“. Dadurch stürzte der Börsenkurs um mehr als zwei Drittel ab.
Der langjährige Vorstandsvorsitzende Markus Braun trat daraufhin zurück. Er wurde später unter dem Vorwurf der Vortäuschung von Einnahmen und Marktmanipulation festgenommen und am Folgetag gegen eine Kaution von 5 Millionen Euro zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt. Auch gegen den am 22. Juni 2020 fristlos entlassenen und zuvor als Chief Operating Officer tätigen Vorstand Jan Marsalek wurde ein Haftbefehl erwirkt. Marsalek hatte zunächst über einen Anwalt erklären lassen, er werde sich der Münchener Staatsanwaltschaft stellen, kam dem jedoch nicht nach und flüchtete. Er galt als Vertrauter und „rechte Hand“ von Markus Braun. Am 22. Juli wurde Markus Braun wegen eines neuen Haftbefehls erneut verhaftet. Mit ihm kamen ein ehemaliger Chief Financial Officer und ein früherer Chefbuchhalter in Untersuchungshaft. Die Tatvorwürfe wurden laut Staatsanwaltschaft auf Basis der Aussagen eines Kronzeugen „ganz erheblich“ erweitert. Die drei festgenommenen Personen hätten seit 2015 Einnahmen vorgetäuscht und damit tatsächliche Verluste verschleiern wollen.
Am 25. Juni 2020 stellte Wirecard einen Insolvenzantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Am 24. August schied Wirecard aus dem DAX und dem TecDAX aus; am nächsten Tag übernahm mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Michael Jaffé als Insolvenzverwalter die Leitung vom Interims-Vorstandsvorsitzenden James Freis und den beiden verbliebenen Vorständen Susanne Steidl und Alexander von Knoop, denen gekündigt wurde. Jaffé kündigte zudem die Entlassung von 730 der 1.300 Mitarbeiter an. Am 11. September schied Freis als Vorstandsvorsitzender aus. Mitte November 2020 teilte Jaffé mit, dass die spanische Banco Santander die Technologieplattform von Wirecard in Europa sowie alle dafür notwendigen Vermögenswerte und den Großteil der davon betroffenen Wirecard-Mitarbeiter übernehme. Nach Angaben von Santander sollen rund 500 Mitarbeiter in das Unternehmen wechseln. Santander übernehme keine Wirecard-Unternehmen und keine rechtliche Haftung für deren Aktivitäten. Laut der Süddeutschen Zeitung soll Santander dafür mehr als 100 Millionen Euro bezahlen und auch Teile des Geschäfts der Wirecard Bank übernehmen. Im Dezember 2020 wurde ein im Auftrag von Wirecard-Gläubigern erstelltes Gutachten in der Zeitschrift für Wirtschaftsrecht veröffentlicht, welches Ansprüche der Wirecard-Aktionäre an der vorhandenen Insolvenzmasse zurückweist.